Bis zum Alter von 15 Jahren verliefen meine Kindheit und Jugend praktisch plattenfrei. Bücher: Hunderte. Blockflöten: in allen Stimmlagen. An Schallplatten jedoch nur Pumuckl, Beethovens Fünfte und Orchestermusik aus Aserbajdschan. Dieses ambitionslose Sammelsurium zeigt schon, wie wenig ich auf das vorbereitet war, was mich, mit 15, beim Zusammenstoß mit versierteren Gleichaltrigen ereilte. Ich war ja ein braves Mädchen und trug einen ungünstigen Pony, aber in einem seltenen Anfall von Abenteuerlust hatte ich meine Eltern überredet, mich ein (gemischtes) Internat besuchen zu lassen; dort teilte ich mir das Zimmer mit der rothaarigen Steffi. Ich brachte viele Kilo Schokolade, sie Zitronenteegranulat und ihren Plattenspieler mit. Dazu einige Platten – Chris de Burgh, dies und das, und eben Meat Loaf, komplett.
Meat Loaf, der Hackbraten! Ich war damals schon Vegetarierin, rappeldürr und mochte mir gar nicht vorstellen, was der Name bedeutete. Eins aber stand sofort außer Zweifel: Dieser Meat Loaf versprach Inspiration, mehr noch: Initiation. Gut, vielleicht nicht wegen Bat out of Hell, da ging’s um Motorräder. Nie im Leben hätte ich freiwillig eines bestiegen. Paradise by the Dashboard Light dagegen, das war mit Auto, das schon eher. Und vor allem handelte der Song von Sex – Sex, den man nicht haben durfte, Sex, den man haben wollte, Sex, für den man sich notfalls in Liebes- und Ewigkeitsgefühle hineinsteigern würde. Nein, wir wussten noch nicht, wie die Kamasutrastellung XY geht und wo der G-Punkt sitzt. Dafür besaßen wir etwas anderes: »Ain’t no doubt about it / We were doubly blessed / Cause we were barely seventeen / And we were barely dressed«. Alles, was man machte, fand der andere toll, und nichts, was er tat, verfehlte seine Wirkung. Man brauchte sich praktisch nur aneinanderzulegen und fühlte schon die Erde beben. Einmal vereinbarten eine Freundin und ich, die stärksten Beben mitzuzählen, und kamen auf… Ach, Statistik, so was ist letztlich ja egal.
Nicht dass wir zu Meat Loafs Liedern immer nur knutschten, nein, wir musizierten auch mit ihm. Die Blockflöten hatte ich zu Hause gelassen, dafür sangen Steffi und ich im Chor. Für unser privates Trio akquirierten wir noch Tina, der die Aufgabe zufiel, Meat Loaf in der Mittellage zu singen. Steffi transponierte eine Oktave nach unten, und ich quietschte alles zwei Oktaven oben drüber mit. Immer, wenn wir nicht gerade Jungs zu Besuch hatten, siehe oben, versammelten sich Steffi, Tina und ich, stärkten uns mit Schokolade und Zitronentee und sangen das gesamte Repertoire. Was müssen die anderen Mädchen auf unserem Flur gelitten haben! Manchmal stellten wir sogar die Box ans geöffnete Fenster und ließen so den ganzen Schulhof in vollen Meat-Loaf-Genuss kommen. Ab und zu klopften andere Schülerinnen an unsere Tür und erklärten, es gehe ihnen allmählich auf die Nerven. »Wir singen ja schon so leise wir können!«, logen wir dann.
Bis heute kann ich, wenn im Radio Meat Loafs alte Lieder kommen, auswendig mitsingen – jeden Vers und jede Zeile. Meine Sorte Musik ist das nicht mehr. Aber wenn ich auf der Straße die heutigen Mädchen mit den zerbrechlichen Hüften und den komischen Frisuren sehe und fast in Mitleid verfalle, fällt mir jene frühe Lektion, die von Meat Loaf, wieder ein: Teenagersex. Ist nicht zu verachten.
Meat Loaf: Bat out of Hell (1977)
Sony/BMG
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