Musikfan bekommt Hilfe vom Staat
Handicap: Hardrock
Der Schwede Roger Tullgren kann wegen Heavy-Metal-Sucht nicht voll arbeiten - das haben ihm die Behörden bescheinigt.
Von Gunnar Herrmann
Für manche ist Roger Tullgren der lebende Beweis dafür, dass der Sozialstaat zum Scheitern verdammt ist. Für andere ist er ein Beispiel dafür, dass Behörden selbst in schwierigen Fällen Lösungen finden können, wenn sie sich anstrengen. Für welchen Standpunkt man sich auch entscheidet: Fest steht, dass der 43-Jährige aus dem südschwedischen Hässleholm auf seine eigene Art und Weise Erfolg hat.
Der Tellerwäscher Roger Tullgren ist jemand, der es geschafft hat. Seit einigen Monaten bekommt er staatliche Unterstützung, weil er Rockmusik lieber mag als das Erwerbsleben. Er selbst sagt zufrieden: "Ich habe heute - nach vielen Jahren - endlich meinen Traumjob gefunden." Tullgren arbeitet in Teilzeit als Küchenhilfe.
Er putzt, wäscht ab, schneidet Salat. Und weil er davon nicht leben kann, bekommt er einen 25-prozentigen Lohnzuschuss vom Arbeitsamt. Eine Vollbeschäftigung ist ihm nach Ansicht der schwedischen Behörden nämlich nicht zuzumuten. Er hat ein offiziell bescheinigtes Handicap: Heavy-Metal-Sucht.
Tullgren zeigt jedem, der es sehen möchte, das Schreiben des Arbeitsamtes, in dem seine Krankengeschichte detailliert geschildert wird. Da steht, dass er seit Anfang der neunziger Jahre von Sozialhilfe lebt, dass Fortbildungen und Praktika ergebnislos blieben. "Diese haben nicht funktioniert, weil Roger sein großes Interesse, das Hardrock ist, vor die Arbeit gesetzt hat", heißt es dort im jovialen Stil schwedischer Bürokraten. Weiter steht in dem Dokument, dass Tullgren "aufgrund seines Lebensstils (Hardrock)" nur schwer zu vermitteln sei.
Immer ehrlich, nur eben stur
Im Klartext: Tullgren hat jede Stelle verloren, weil er lieber zu Konzerten ging anstatt zum Job. Außerdem hatte er während der Arbeit stets Heavy Metal gehört und sich geweigert, seine Rockerkleidung abzulegen. Das Arbeitsamt stufte diese Besonderheiten schließlich als "sozialmedizinische Behinderung" ein und machte damit den Weg frei für Hilfsmaßnahmen, die in Schweden allen Behinderten zustehen.
Der nordische Wohlfahrtsstaat ist dafür bekannt, dass er viel Verständnis zeigt und wenig Zwang kennt. Natürlich gibt es darüber eine Debatte in Schweden, die allerdings nicht besonders hitzig ist. Kritiker sagen, das System verleite Menschen dazu, sich in die soziale Hängematte zu legen. Befürworter warnen, eine härtere Gangart würde das Vertrauen in den Staat untergraben.
Geschichten wie die vom staatlich bescheinigten Hardrock-Handicap betrachten die meisten Schweden eher als Skurrilität. Zu einem Skandal ist Tullgrens Fall in seiner Heimat jedenfalls nicht geworden. Schließlich hat er keine Gesetze gebrochen. Der 43-Jährige sagte den Beamten stets die Wahrheit und versuchte nie, sich unrechtmäßig Leistungen zu erschleichen. Er war bloß stur, oder anders gesagt: zielstrebig. Tullgren hat sich standhaft geweigert, auch nur einen Fußbreit von seinem Lebenstraum abzurücken.
Rocker mit bürgerlichem Kern
E-Gitarren und Schlagzeugsolos begleiten Roger Tullgren schon jahrzehntelang. "Seit ich mit sechs Jahren eine Black-Sabbath-Platte bekam", sagt er. Der Rocker spricht einen gemütlichen südschwedischen Akzent, und beim Telefonat ist im Hintergrund beständiges Gitarrengeschraddel zu vernehmen. Er hört dauernd Musik, sagt er. Außerdem spielt er selbst Bass in der Band "Prosecutor", die gelegentlich sogar in Deutschland auftritt. Und er arbeitet bei der Organisation von Festivals mit. Geld verdient Tullgren dabei kaum, aber darum geht es ihm nicht. Im Jahr 2006 hat er mal seine Konzertbesuche gezählt: Er war bei insgesamt 299 Veranstaltungen.
Wer seine Leidenschaft auf diese Weise auslebt, braucht einen Chef, der flexibel und tolerant ist. Dank der Unterstützung des Arbeitsamtes, die ihm Teilzeit ermöglicht, hat Tullgren nun in einem Restaurant so einen Chef gefunden. "Ich mag ihn wirklich sehr", erzählt er. "Er lässt mich meine Musik hören, und ich darf auf Konzerte gehen, wann ich will. Dafür arbeite ich an anderen Tagen manchmal länger." Und so hat der 43-Jährige nun das, was er sich immer gewünscht hat: Heavy Metal und ein geregeltes Leben.
Denn unter Tullgrens Kutte steckt ein bürgerlicher Kern. Er achtet zum Beispiel sorgfältig darauf, dass Sohn und Tochter ihre Schularbeiten machen. "Damit sie später mal alle Chancen haben", sagt er und fährt stolz fort: "Sie sind beide sehr vernünftig." Und für Faulpelze hat der Tellerwäscher wenig übrig. Ein jüngerer Arbeitskollege kommentierte das Hardrock-Handicap mal mit den Worten: "Ich spiele gern Computer. Vielleicht sollte ich mir dafür auch einen Krankenschein ausstellen lassen?" Tullgren kann über solche Ideen nur verständnislos den Kopf schütteln. "So geht es natürlich nicht", sagt er. "Der will ja bloß 24 Stunden am Tag zuhause rumsitzen."
Quelle: werder forum / süddeutsche.de